Für Angehörige

 

Die psychosozialen Themen, die auf den vorhergehenden Seiten behandelt werden, betreffen selbstverständlich auch Sie als Angehörige. Dennoch möchten wir hier ganz spezifisch Sie als Partner, Kind, Eltern, Geschwister oder Freund des erkrankten Menschen ansprechen. Denn auch für Sie ist die ALS mit enormen Verlusten, Einschränkungen und zudem mit belastenden Aufgaben verbunden - und damit oft auch mit Traurigkeit, Hilflosigkeit, Angst und Sorge oder auch Wut und Frustration.

Besonders große Veränderungen und Herausforderungen bringt die Erkrankung zwangsläufig für diejenigen Angehörigen mit sich, die mit dem Erkrankten zusammenleben und die hauptverantwortlich für dessen Unterstützung und ggf. Pflege sind. Das Leben, das Sie vor der Diagnose hatten, ihr Alltag und Ihre Pläne werden über den Haufen geworfen. Auch Ihre Rolle und Beziehung verändert sich unfreiwillig: Sie sind nicht mehr länger ausschließlich z.B. PartnerIn, sondern auch PflegerIn. Auch für diejenigen Angehörigen, die nicht mit dem Erkrankten zusammenleben, kann die Belastung enorm sein. Sei es durch organisatorische Angelegenheiten, Sorge um den Erkrankten, ein schlechtes Gewissen oder Gefühle von Hilf- und Machtlosigkeit.

An dieser Stelle ist unsere wichtigste Botschaft: Sie müssen da nicht alleine durch! Seit einigen Jahren bieten wir am Uniklinikum Angehörigentreffen an, zu denen Sie herzlich willkommen sind. Gerne können Sie uns auch unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! kontaktieren. Auch der Austausch unter Gleichbetroffenen in sozialen Netzwerken kann neben praktischen Tipps emotionale Entlastung schaffen. Die Internetseite der DGM gibt einen guten Überblick über alles Wissenswerte zu ALS, sowie über sozialrechtliche Fragen und Beratungsangebote.

Einige aus unserer Sicht wichtige Punkte bezüglich Ihrer Rolle als Angehörige:

Sie haben als Angehörige eine komplizierte und fordernde Doppelrolle inne: Einerseits sind Sie selbst durch die Erkrankung mitbetroffen, Ihr Alltag, ihre Lebenspläne ändern sich, hinzu kommen Ängste und Sorgen sowie die oft herausfordernden organisatorischen Aufgaben. Gleichzeitig sind Sie die wichtigste Stütze für den Erkrankten selbst und möchten die bestmögliche Unterstützung leisten, um dessen Wohlbefinden und Lebensqualität so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Dies kann zeitlich, körperlich und emotional enorm strapazierend sein.

Es ist von unschätzbarer Wichtigkeit, dass Sie sich selbst in Anbetracht dieser Belastung nicht aus dem Blick verlieren.

Viele Angehörige versuchen, Gefühle von Überforderung, oder auch Angst, Wut und Trauer vor den Erkrankten zu verbergen, um diese nicht zusätzlich zu belasten. Das kostet zusätzliche Kraft - und Ihre Gefühle verschwinden nicht einfach. Diese Gefühle nicht einfach zu "verdrängen", sondern einen gesünderen Umgang mit Ihnen zu finden, ist umso bedeutsamer. Suchen Sie sich Gesprächspartner, bei denen Sie Ihren Empfindungen Raum geben können, seien es Familienmitglieder, Freunde oder z.B. Therapeuten. Versuchen Sie, soziale Kontakte, die Ihnen Kraft und Entlastung spenden, zu pflegen, und auch aktiv Unterstützung einzufordern (s.u.). Oft sagen Freunde oder Verwandte „Wenn ich irgendwas für Euch tun kann…“ – greifen Sie darauf zurück, lassen Sie z.B. einmal pro Woche von Freunden für sich kochen, spannen Sie jemanden ein, der einmal die Woche dem erkrankten Gesellschaft leistet, damit Sie zum Sport gehen können,… 

Die Überschrift hierzu ist „Selbstfürsorge“: Damit ist gemeint, "sich Zeit für Dinge zu nehmen, die dabei helfen, gut zu leben und die seelische wie körperliche Gesundheit zu erhalten und zu verbessern." Vielleicht kommen Ihnen jetzt Gedanken wie: "Ist das nicht egoistisch - ich bin ja nicht die, die krank ist?" und vielleicht auch: "es geht schon irgendwie, muss es ja." ABER: Wer eigene Bedürfnisse (über längere Zeit) übersieht oder übergeht, der wird mittel- oder langfristig gesundheitlich Schaden nehmen. Wer seelisch und körperlichen Schaden davonträgt, kann auch weniger gut oder gar nicht mehr für Andere da sein. Wir bitten Sie um Mitgefühl - in diesem Fall eben auch mit sich selbst. Mitgefühlt meint, Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, ernst zu nehmen und Ihnen Rechnung zu tragen. Sie haben Mitgefühl mit anderen, allem voran mit Ihrem Erkrankten Angehörigen. Wie viel Mitgefühl haben Sie mit sich selbst? Der erste Schritt ist es, sich selbst - und damit die Signale des eigenen Körpers, des Kopfes und der Seele - wahrzunehmen und auch ernst zu nehmen. Viele Angehörige in Ihrer Situation neigen sehr stark dazu, die eigenen Bedürfnisse - auch sehr basale körperliche wie auch emotionale Bedürfnisse - zu ignorieren. Dies ist nachvollziehbar und gleichzeitig problematisch. 

Drei wichtige Bausteine der Selbstfürsorge sind Schlaf, Ernährung und Bewegung: Sie nehmen gravierenden Einfluss auf unser körperliches sowie seelisches Wohlbefinden, welches im engen Zusammenhang miteinander steht. Körper und Psyche sind nicht unabhängig voneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig.

Weitere Bausteine sind Tätigkeiten, die Ihnen Freude bereiten, Selbstwert und Sinn stiften und von den Belastungen des Alltages ablenken: Hobbies und Interessen, für viele auch (noch) der Beruf. Versuchen Sie, sich zumindest einiges davon auch im Erkrankungsverlauf zu erhalten, um „den Akku aufzuladen“. Dies kann auch durch Entspannungsverfahren und Meditation ergänzt werden. Sport bzw. Bewegung hilft, Stresshormone abzubauen – kostenlose Kurse bietet Ihre Krankenkasse an. 

Soziale Beziehungen, gemeinsame Aktivitäten und der Austausch mit anderen, nahestehenden Menschen ist einer der wichtigsten Bausteine für Selbstfürsorge (s.u.). Auch diesbezüglich unterscheiden sich Menschen stark voneinander und das ist in Ordnung. Manche fühlen sich wohler damit, nur ein oder zwei aber dafür sehr enge Kontakte zu haben. Andere bevorzugen einen größeren Kreis an Menschen in Ihrem Leben. 

Vielleicht ist in Ihrem Kopf schon lange ein Einwand aufgeploppt: "Ich habe keine Zeit, wann soll ich das tun?". Oder auch: "Wer kümmert sich dann um den Patienten?". Das ist verständlich. Wir möchten Sie dennoch ermutigen, sorgsam darüber nachzudenken, wie Sie sich Freiräume für Selbstfürsorge schaffen können. Wer könnte Sie unterstützen? Wann sind vielleicht Zeiträume, in denen Sie sie/ihn auch mal alleine lassen könnten? Wäre die Verhinderungspflege für wenige Stunden eine Option? Die Botschaft an dieser Stelle lautet: realistisch bleiben, aber auch konsequent. Hierfür kann es hilfreich sein, feste Zeiten festzulegen und eventuell einen Wochenplan zu machen, der auch Zeit für Sie fest einplant. Oft stellen Angehörige fest, dass es schwierig, aber möglich ist, Zeit zu schaffen. Kommunikation ist zudem auch hier das Stichwort: Sprechen Sie mit Ihrem erkrankten Angehörigen - wahrscheinlich hat er Verständnis für Ihr Bedürfnis, selbst wenn es sie/ihn vielleicht traurig macht. Hätten Sie es an ihrer/seiner Stelle? Offen darüber zu kommunizieren, kann Sie sogar näher zusammenbringen. Zudem kann Selbstfürsorge natürlich auch gemeinsame Zeit mit Ihrem erkrankten Angehörigen umfassen. Überlegen Sie gemeinsam, was (noch) möglich ist und wer Sie dabei unterstützen könnte. Oft gerät dies im stressigen Alltag in Vergessenheit.

Zudem können auch kleine Dinge Selbstfürsorge sein, die kaum Zeit kosten: z.B. ein Duftöl, eine Kerze, ein gutes Lied. Auch Traumreisen, Achtsamkeitsübungen oder andere Entspannungsübungen können eine sehr wohltuende, wenig zeitaufwändige Auszeit im Alltag sein. Sprechen Sie uns an, wenn Sie diesbezüglich Beratungsbedarf haben! Auch ein kurzes Gespräch mit einem lieben Menschen kann ebenfalls Wohlbefinden schaffen. Es kann helfen sich zu fragen: Was würden Sie einem guten Freund, einer guten Freundin empfehlen?

Viele Angehörige berichten, dass sich ihr soziales Netzwerk infolge der Erkrankung verändert. Einige berichten, dass sich Beziehungen infolge der Erkrankung intensivieren; und dass sie in diesem Zuge lernen, wer ihre "echten Freunde" sind. Es kann jedoch auch passieren, dass sich Menschen zurückziehen. Dies kann als schmerzhaft empfunden werden. Eine häufige Erklärung dafür ist, dass sich außenstehende Menschen überfordert und unsicher fühlen und nicht wissen, wie Sie mit dem Erkrankten umgehen, was Sie sagen sollen. Das können Sie vielleicht nachvollziehen - dennoch ist es verständlich, wenn Sie dafür nur begrenzt Verständnis aufbringen können; es Sie nicht nur traurig, sondern vielleicht auch wütend macht und sie "trotzig" reagieren mit: "Dann halt nicht, ich hab genug Probleme". In manchen Fällen ist diese Einstellung wahrscheinlich auch die gesündeste und damit im Sinne der Selbstfürsorge. Gerade aber, wenn es sich um wichtige Personen handelt, möchten wir Sie darin bestärken auf die- oder denjenigen zuzugehen. Eine grundsätzlich hilfreiche Kommunikationsstrategie ist es, dem anderen offen die eigenen Gedanken und Gefühle zu offenbaren; z.B. "Ich bin traurig darüber, dass wir den Kontakt verloren haben und auch enttäuscht, dass Du dich nicht gemeldet hast." - und die Beweggründe des Anderen zu erfragen "Was hat dich davon abgehalten, dich zu melden?". Die andere Person weiß, was in Ihnen vorgeht und traut sich bestenfalls, ebenfalls offen zu reagieren.

Die Inanspruchnahme professioneller Pflegedienste kann für die Angehörigen eine enorme Entlastung bedeuten, denn die Pflege eines ALS-Patienten ist nicht nur zeitlich, sondern auch körperlich und emotional hochgradig anstrengend und zehrend. Sie sollte bzw. KANN spätestens in fortgeschrittenen Stadien nicht mehr alleine abgedeckt werden. Professionelle pflegerische Unterstützung kann es ermöglichen, sowohl die verbleibende gemeinsame Zeit mit dem Erkrankten so gut wie möglich zu nutzen, mehr PartnerIn als Pflegekraft zu sein, als auch, dringend benötigte Zeit für sich selbst zu finden. Manche Angehörige haben den Anspruch, alles alleine schaffen zu müssen, oder die Erkrankten selbst wollen keine fremden Personen im Haus haben. So nachvollziehbar dieser Wunsch sein mag: auch Sie haben Grenzen der Belastbarkeit. Respektieren Sie diese. Niemand hat etwas davon, wenn durch die Pflege und Betreuung IHRE Gesundheit Schaden nimmt. Sie sind kein weniger guter Partner (oder Sohn, Tochter, Freund), weil Sie nicht alles (alleine) schaffen. Und Sie können Ihren erkrankten Angehörigen nur dann unterstützen, wenn Sie selbst nicht unter der körperlichen und emotionalen Last zusammenbrechen. 

Von vielen unterstützenden und/oder pflegenden Angehörige hören wir Aussagen wie: "Ich tue das ja gerne" oder "es ist selbstverständlich, sie/er würde dasselbe für mich tun". Dazu ist es uns wichtig zum Ausdruck zu bringen: Das zweifeln wir keinesfalls an oder kritisieren es gar. Ganz im Gegenteil: wir möchten Ihre Unterstützung anerkennen und wertschätzen. Dass Sie diese Rolle und Aufgaben mit Selbstverständlichkeit übernehmen heißt aber nicht, dass Sie dies nicht gleichzeitig als belastend, sogar als überfordernd empfinden können. Für diese Gefühle möchten wir Ihre Akzeptanz wecken. Viele Angehörige gehen weit über Ihre Belastungsgrenzen hinaus und stellen die eigenen Bedürfnisse zurück. Wir möchten Ihnen erstens vermitteln, dass Ihre Reaktionen - einschließlich Wut, Frustration, Ungeduld, Überforderung - normal sind und Sie zweitens darin bestärke und Sie dabei unterstützen, sich selbst und Ihre körperliche und seelische Gesundheit nicht zu vergessen. Denn Sie sind zwar nicht selbst krank aber dennoch auch von den Folgen der Erkrankung betroffen.

Viele Angehörige versuchen, Gefühle von Überforderung, oder auch Angst, Wut und Trauer vor den Erkrankten zu verbergen, um diese nicht zusätzlich zu belasten. Das kostet zusätzliche Kraft - und Ihre Gefühle verschwinden nicht einfach. Diese Gefühle nicht einfach zu "verdrängen", sondern einen gesünderen Umgang mit Ihnen zu finden, ist umso bedeutsamer. Suchen Sie sich Gesprächspartner, bei denen Sie Ihren Empfindungen Raum geben können, seien es Familienmitglieder, Freunde oder z.B. Therapeuten. Versuchen Sie, soziale Kontakte, die Ihnen Kraft und Entlastung spenden, zu pflegen, und auch aktiv Unterstützung einzufordern. Oft sagen Freunde oder Verwandte „Wenn ich irgendwas für Euch tun kann…“ – greifen Sie darauf zurück, lassen Sie z.B. einmal pro Woche von Freunden für sich kochen, spannen Sie jemanden ein, der einmal die Woche dem Erkrankten Gesellschaft leistet, damit Sie zum Sport gehen können - es ist völlig OK, in einer so fordernden Situation Hilfe anzunehmen!

Viele Angehörige berichten auch, dass Ihnen selbstfürsorgliche Aktivitäten und Zeit für sich einerseits Wohlbefinden und Kraft geben - anderseits aber ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle hervorrufen. Es kommen Gedanken wie: "Ich amüsiere mich hier, während mein Angehöriger krank zu Hause liegt." Auch mit solchen oder ähnlichen Gedanken sind Sie also nicht alleine. Eine wichtige Frage ist wieder: Nützt es Ihrem Angehörigen, wenn Sie seelisch und/oder körperlich Schaden nehmen? Und auch: möchte sie/er das? Auch hier gilt: Sprechen Sie solche Gedanken und Gefühle offen an. Angehörige berichten, dass die Patienten sie in solchen Gespräch darin bestärken, sich Zeit für sich zu nehmen und vielleicht sogar erleichtert darüber sind. Denn die Patienten wiederum quält häufig die Sorge, ihren Liebsten eine Last zu sein. Zudem möchten wir Ihnen mitgeben: sich schuldig zu fühlen heißt nicht, schuldig zu sein. Ihr Gefühl von Schuld zeigt nicht, dass Sie etwas Falsches oder Verwerfliches machen, sondern wie viel Verantwortung sie tragen und wie wichtig Sie für Ihren Angehörigen sind. Auch hier kann es helfen zu fragen: Was würden Sie an ihrer/seiner Stelle darüber denken. Und auch: was würden Sie über eine Freundin denken, die in Ihrer Situation wäre? Würden Sie denken, dass Sie sich schuldig fühlen sollte?

Manche Angehörige berichten auch über das Erleben von Wut. Wut kann in vielen Situationen im Zusammenhang mit der Erkrankung Ihres Angehörigen aufkommen - und das ist nicht nur normal, sondern auch wichtig (s. Negative" Gefühle: welche, wozu und wie damit umgehen?). Was spezifisch Angehörige berichten ist Wut, die durch das Verhalten des Patienten ausgelöst wird - und die deshalb häufig Schuldgefühle auslöst.  Der Grund dafür ist die Bewertung der eigenen Wut als z.B. "unfair" oder "unangemessen". Die wichtigste Botschaft hierzu an Sie: Gefühle sind nie "falsch" und es ist normal, dass Sie Wut und Frustration empfinden. Sie dürfen wütend sein. Einigen Angehörigen hilft es sich vor Augen zu führen, dass Sie häufig gar nicht auf den Erkrankten selbst wütend sind, sondern viel mehr auf die Erkrankung - und sich über das Verhalten des Betroffenen ärgern, das in dessen Erkrankungen begründet liegt. Ein häufiges Beispiel hierfür ist das scheinbar starke Kontrollbedürfnis von ALS-erkrankten Menschen. So berichten Angehörige z.B., dass Patienten sehr genaue Anweisungen geben und darauf bestehen, dass Dinge exakt so gemacht werden, wie sie es möchten; und keine Abweichungen dulden - auch wenn dies aus Sicht des Angehörigen irrelevant erscheint. Das kann verständlicherweise verärgern. Es kann helfen, die Perspektive des Patienten einzunehmen: sie oder er erlebt infolge der Erkrankung sehr viel Verlust von Kontrolle und der Fähigkeiten, selbst aktiv zu sein und etwas beizutragen. Ein scheinbar irrationales Verhalten wie das geschilderte kann der Versuch sein, ein Stück Kontrolle zu erleben, teilzuhaben am Leben und seine Liebsten zu unterstützen - in der Form, die noch möglich ist. Vielleicht hilft es Ihnen, diese und andere Situationen durch eine andere Brille zu sehen.