"Negative" Gefühle: welche, wozu und wie damit umgehen?

Ihre Erkrankung und die damit verbundenen Belastungen, Verluste und die Ungewissheit können natürlicherweise starke Gefühle und Emotionen hervorrufen: Traurigkeit, Angst, Ärger und Wut, Hilfslosigkeit, Frustration und Hoffnungslosigkeit. Einige Patient*innen berichten auch von Schuld- und Schamgefühlen.

Diese Gefühle können so stark werden, dass Sie sich schier überwältigt fühlen, es kaum aushalten können. Wir möchten hier versuchen, Ihnen ein paar Hinweise zu geben, die Ihnen vielleicht helfen können, mit diesen Gefühlen umzugehen:

Zunächst einmal: Gefühle sind NIE „falsch“, sie haben immer ihre Berechtigung.

Negative Gefühle haben die Funktion, uns darauf hinzuweisen, dass ein wichtiges Bedürfnis bedroht oder unerfüllt ist. Sie helfen und somit, unsere Bedürfnisse zu erkennen und im zweiten Schritt dabei, uns so zu verhalten, dass dieses Bedürfnis möglichst doch erfüllt wird. Ein simples Beispiel:

Sie sehen eine Schlange am Boden – diese bedroht ihr Bedürfnis nach Sicherheit (sie könnte giftig sein und Sie beißen), Sie empfinden Angst. Durch die Angst wird ihr Körper aktiviert, der Herzschlag beschleunigt sich und sie sind in der Lage, entweder wegzulaufen oder die Schlange zu erschlagen – wodurch ihr Bedürfnis nach Sicherheit wieder hergestellt ist.

Gefühle haben also prinzipiell einen Nutzen, auch wenn sich furchtbar anfühlen.

Welche Möglichkeiten haben Sie, mit den Gefühle, die Ihre Erkrankung auslöst, umzugehen?:

Weil sie sich so schrecklich anfühlen, neigen manche Menschen dazu, Angst, Trauer oder Wut wegzudrücken, zu verdrängen. Dies kann kurzfristig eine hilfreiche Strategie sein, um sich selbst vor Überwältigung zu schützen, um im Alltag „funktionieren“ zu können oder andere anwesende Personen, z.B. Kinder, zu schützen. Problematisch wird es oft, wenn wir das „Verdrängen von Gefühlen“ über sehr lange Zeit als einzige Strategie nutzen. Warum? Erstens, weil uns der Versuch unsere Gefühle wegzudrücken sehr viel Kraft kostet. Zweitens und wichtiger: weil diese Strategie über längere Zeit nicht erfolgreich ist. Wenn wir versuchen NICHT zu fühlen, dann suchen sich unsere Emotionen einen anderen Weg. Dies kann z.B. in körperlichen Beschwerden wie Schmerzen resultieren, in Schlafstörungen, einer starken Angespanntheit oder permanenten Erschöpfung. Auch Gereiztheit, also eine „kurze Zündschnur“ kann eine Folge sein. Dabei kann es auch passieren, dass sich Wut oder Ärger gegen Menschen richten, die gar nicht der Grund für diese Gefühle sind – gegen unsere Liebsten, aber auch gegen uns selbst. Gefühle werden stärker, wenn wir versuchen sie nicht zu fühlen. Gefühle werden sich mit der Zeit weniger stark oder belastend anfühlen, wenn wir es schaffen, sie zuzulassen. Und wir haben die Chance, dem Bedürfnis, welches hinter dem Gefühl steht, auf den Grund zu gehen.

Was helfen kann, starke Gefühle erträglicher zu machen, ist, diese Gefühle mitzuteilen, sie also aufzuschreiben oder mit jemandem darüber zu sprechen. Über Gefühle zu reden, lässt sie nicht verschwinden – aber es hilft sie zu ertragen. Manchen Menschen fällt es leichter, sich mit einer nahestehenden Vertrauensperson über emotionale Themen auszutauschen, während andere lieber mit jemand Außenstehenden sprechen. Hierfür können Sie professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Für manche ist der Austausch mit anderen ALS-Betroffenen besonders wertvoll und vielleicht einfacher, weil die/derjenige „weiß, wovon Sie reden“. Andere Erkrankte aber empfinden genau das als belastend und möchten sich nicht mit ähnlichen Schicksalen konfrontieren und vergleichen. Grundsätzlich gilt: Sie müssen da nicht alleine durch! Nicht nur, aber auch aufgrund der motorischer Einschränkungen des Sprechens kann es auch der einfachere Weg sein, Gefühle und ihre Gedanken aufzuschreiben. Das können Sie entweder nur für sich selbst tun, oder auch für andere Menschen.

Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen sind eine weitere Möglichkeit, Gefühle besser aushalten zu können. Ziel dieser Übungen ist es nicht, Gefühle zu verdrängen oder nicht mehr zu fühlen, sondern die (emotionale) Anspannung zu reduzieren und der Seele eine kleine Auszeit zu verschaffen. Vom autogenen Training über Traumreisen bis hin zu progressiver Muskelrelaxation (PMR) existieren viele Möglichkeiten. Welche davon für Sie hilfreich sein können, ist individuell sehr verschieden und lässt sich nur durch Ausprobieren herausfinden. Zudem bedürfen manche Techniken einer gewissen Mobilität (z.B. die Progressive Muskelrelaxation) und sind deshalb nicht für alle ALS-Erkrankten umsetzbar. Dagegen sind z.B. Traumreisen auch für Menschen mit sehr schweren motorischen Einschränkungen geeignet. Für alle Übungen und Techniken gilt: sie brauchen Übung, um ihre (volle) Wirkung zu entfalten. Sprechen Sie uns auch gerne direkt an, wenn wir Ihnen bei der Suche nach für Sie geeigneten Entspannungstechniken unterstützen können.

Schließlich kann es auch eine Option sein, zu ergründen, ob sich nicht doch zumindest ein Teil des Bedürfnisses, welches die starken Gefühle ausgelöst hat, zu erfüllen. Natürlich gibt es Bedürfnisse, die gar nicht erfüllt werden können – allem voran der Wunsch, gesund zu sein. Manchmal lassen sich jedoch für bestimmte Aspekte dessen, was Sie wütend, traurig oder ängstlich macht, Lösungen bzw. Hilfe finden. Z.B. bei Angst vor Kontrollverlust über Patientenverfügung oder andere Vorsorgemaßnahmen einen Teil Kontrolle zurückzuerlangen (Welche medizinischen Maßnahmen sollen ergriffen werden, welche nicht?), oder bei Trauer um ein geliebtes Hobby eine alternative Aktivität auszuprobieren, einen „Ersatz“ zu generieren und zumindest mit den lieben Menschen, die man mit diesem Hobby verbunden hat, Kontakt zu halten.

Im Folgenden finden Sie einige Gedanken zu spezifischen Gefühlen, die von vielen ALS-Betroffenen berichtet werden.

Selbstverständlich gilt: jeder Mensch ist individuell und reagiert – auch emotional – anders auf Schicksalsschläge, Belastungen und Herausforderungen. Niemand wird sich in allem Geschilderten wiederfinden, es gibt kein "richtig" und "falsch".

Traurigkeit und Niedergeschlagenheit

sind Gefühle, die fast jeder ALS-Patient kennt. Denn sie werden ausgelöst durch die Verluste, die die Erkrankung zwangsläufig mit sich bringt: Den Verlust an Lebenszeit, dem fortschreitenden Verlust motorischer Fähigkeiten und die infolge beschränkten Möglichkeiten, das eigene Leben selbstbestimmt und frei zu gestalten. Sehr viele Patienten erleben auch ungewollte Veränderungen in ihren freundschaftlichen und familiären Beziehungen oder der Partnerschaft, die Traurigkeit auslösen. Wichtige Gründe dafür sind u.a. ein zunehmender Verlust der Fähigkeit zu sprechen, der die Kommunikation (auch mithilfe von Hilfsmitteln) erschwert, anstrengend oder unbefriedigend macht. Dies gilt auch für gemeinsame Aktivitäten mit Freunden und Familie, die durch die Erkrankung insgesamt stark eingeschränkt werden und die „Teilhabe“ am sozialen Leben erschweren. Auch darüber hinaus kann Rückgang sozialer Interaktion darauf beruhen, dass sich die Erkrankten selbst zurückziehen. Dieser Rückzug geschieht vielleicht aufgrund von Scham, mangelnder Energie oder der Angst, dem anderen eine Last zu sein - auch wenn dieser diese Last gar nicht empfindet. Viele Patienten berichten aber auch, dass sich Angehörige und Freunde zurückziehen

Dass Traurigkeit eine sehr natürliche und häufig sehr starke emotionale Reaktion ist, bedeutet aber NICHT, dass alle ALS-Erkrankten langandauernd oder dauerhaft niedergeschlagen oder gar depressiv sind. Eine wichtige Erklärung hierfür ist die enorme menschliche Anpassungsfähigkeit. Menschen können Ihre Erwartungen und Vorstellungen an sich verändernde Bedingungen und Möglichkeiten anpassen – und somit auch in einer extrem belastenden und schwierigen Lebenslage Zufriedenheit erleben oder glücklich sein. Aus der Perspektive eines Menschen, der nicht in dieser Situation ist, ist dies meist sehr schwer nachvollziehbar – insbesondere für Menschen, die bislang keinerlei Kontakt mit der Erkrankung hatten. Dies ist auch manchmal der Grund, warum sich andere Menschen zurückziehen - sie trauen sich einfach nicht, zu fragen "Wie geht´s?", haben vielleicht auch Angst vor ihren eigenen Gefühlen, ihrer Hilflosigkeit. Hier kann es helfen, wenn Sie offensiv kommunizieren und klar formulieren, was sie sich wünschen, und was nicht und selbst die Ihnen wohltuenden Kontakte gut pflegen. Schließlich kann es sehr dabei helfen, schwierige Situationen, eben auch Momente der Traurigkeit und das erleben von Veränderung und Verlust, auszuhalten, wenn man mit seinen Mitmenschen verbunden bleibt, es gelingt, Beziehungen zu erhalten und im (emotionalen) Austausch zu bleiben. 

Ein Teil der ALS-Patienten leidet infolge der Erkrankung unter einer Depression. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung, die gekennzeichnet durch eine schwere und überdauernde Traurigkeit und Niedergeschlagenheit und meist durch einen mangelnden bis fehlenden Antrieb und Interessenverlust. Häufig kommen weitere Symptome hinzu, u.a. Schlafstörungen, innere Unruhe oder Konzentrationsstörungen. Wenn Sie Symptome einer Depression bei sich selbst bemerken, wenden Sie sich damit an Ihren behandelnden Arzt/behandelnde Ärztin oder sprechen Sie uns an. Denn eine Depression kann diagnostiziert und sollte behandelt werden, wofür sowohl Medikamente als auch Gesprächstherapie/Psychotherapie Möglichkeiten darstellen. Sie müssen eine Depression nicht "einfach aushalten“.

Angst

Die Symptome und der Verlauf der ALS lösen bei fast allen Betroffenen zudem mehr oder weniger starke Ängste aus. Eine häufige Angst ist die vor der zunehmenden Hilflosigkeit  und damit verbundenem Verlust von Autonomie infolge der fortschreitenden motorischen Einschränkung, aufgrund derer Sie in eine zunehmende Abhängigkeit von der Unterstützung anderer geraten. Dieser Verlust der körperlichen Selbstständigkeit und die fehlende Möglichkeit, die Erkrankung zu stoppen oder zu heilen, erzeugt bei einigen Patienten auch ein Gefühl des (zunehmenden) Kontrollverlusts. Hierzu trägt auch die Ungewissheit bei, mit welcher Geschwindigkeit die Krankheit voranschreiten wird. Das Erleben von Kontrolle über unser eigenes Leben gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen – weshalb der Verlust sehr unangenehm ist und Stress und Angst auslösen kann.

Einige ALS-Patienten berichten zudem die Angst vor dem Sterben. Häufig ist es nicht die Angst vor dem Tod an sich, sondern die vor einem qualvollen Versterben und insbesondere vor dem Ersticken aufgrund von Verschlucken oder Atemnot Wir möchten versuchen Ihnen diese Angst zu nehmen, denn: es ist extrem unwahrscheinlich, dass ein ALS-Patient erstickt - insbesondere, wenn sie/er an eine (spezialisierte) ärztliche Betreuung angebunden sind. Denn erstens existieren Maßnahmen gegen das Verschlucken, die von ärztlicher Seite und durch die Logopädie vermittelt werden. Zweitens ist die Behandlung der Atemnot in der letzten Lebensphase ein wichtiger Bestandteil der Palliativversorgung und bietet sehr wirksame medikamentöse Maßnahmen für Patienten, die sich gegen die künstliche Beatmung entscheiden. Die Lähmung der Atemmuskulatur ist zwar die häufigste Ursache für das Versterben an ALS, der Tod tritt aber nicht infolge des "Erstickens" ein und ist nicht qualvoll oder schmerzhaft. Auch hier gilt: Sprechen Sie uns bzw. Ihre behandelnde Ärztin/Ihren behandelnden Arzt an, wenn Sie diesbezüglich weitere Informationen wünschen und grundsätzlich, wenn Sie Sorgen oder Ängste haben.

Auf dem aktuellen Stand der Medizin ist es nicht möglich, die ALS zu stoppen oder gar die Verluste rückgängig zu machen, die Gefühle wie Traurigkeit und Angst auslösen. Warum kann es dennoch hilfreich sein, auf diese Gefühle „zu hören“, sie ernst zu nehmen?  Hinter diesen Gefühlen steckt auch ein Bedürfnis nach Verständnis, Fürsorge und Unterstützung – durch geliebte Menschen, aber möglicherweise auch durch andere Betroffene oder Unterstützung professioneller Natur (z.B. durch Ärzte oder Psychotherapeuten). Diese Gefühle ernst zu nehmen kann den Impuls geben, sich solche Unterstützung zu suchen. Die Unterstützung kann emotionaler Natur sein, z.B. in Form von Nähe, Verständnis und Trost. Unterstützung kann in Form von Informationsvermittlung stattfinden – so wie auf dieser Internetseite oder durch eine Ärztin oder andere Experten. Unterstützung kann auch in praktischer Form stattfinden - mit dem Ziel, den Verlust von Kontrolle und Autonomie – der Hilfslosigkeit, Angst und Traurigkeit auslöst – einzugrenzen oder vorzubeugen. Neben der praktischen Unterstützung durch andere Menschen ist die Beschaffung von Hilfsmitteln zur Aufrechterhaltung von Mobilität und Kommunikation eine entscheidende praktische Unterstützungsmaßnahme. Denn sie können Selbstbestimmung und ein gewisses Ausmaß an Autonomie auf  Ihr Erk können den Antrieb geben, sich mit den diesbezüglichen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, Hilfsmittel zu beantragen und hierfür wiederum auch professionelle Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Dennoch zögern einige Patient*innen diese Schritte und damit die Nutzung eines Hilfsmittels lange hinaus – oft auch aus Angst oder aus Traurigkeit über die Verluste körperlicher Fähigkeiten und neuer Einschränkungen, aufgrund derer das Hilfsmittel benötigt wird. Die Gedanken an diese Verluste und die damit verbundenen Gefühle werden vermieden. Das ist nachvollziehbar, kann jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit die Belastung verstärken. Wie bereits thematisiert, ist Vermeidung eine wenig und vor allem nur recht kurzfristig wirksame Strategie.

Wut, Ärger

Vielleicht kennen Sie im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung auch Ärger oder Wut – wenn ja, was waren die Auslöser?

ALS-Betroffene berichten Wut aufgrund des Gedankens „Warum hat es gerade mich erwischt?“. Eine Frage, auf die es keine Antwort geben wird, denn .  Hinter dieser Frage steckt das menschliche Bedürfnis danach Erklärung zu finden für das, was uns passiert.  Betroffene empfinden auch Wut darüber, dass es keine Heilung gibt. An dieser Stelle fragen Sie sich vielleicht: warum bin ich wütend, wenn doch niemand etwas dafürkann, dass ich krank bin? Aber Wut entsteht nicht nur, wenn jemand Schuld hat. Wut muss sich auch gar nicht gegen eine Person richten. Wir können Wut über eine Situation erleben, über ein Ereignis – Sie können wütend sein auf Ihre Erkrankung.

Dahinter steht das Erleben von Ungerechtigkeit, Hilfslosigkeit und wiederum fehlender Kontrolle – das traurig machen kann, aber eben auch ärgerlich. Auch das Gefühl von Frustration kennen viele ALS-Betroffene in diesem Zusammenhang.

Ein anderer, bereits erwähnter und leider sehr präsenter Auslöser von Wut sind Ablehnungsschreiben der Krankenkassen für wichtige Hilfsmittel oder Leistungen (z.B. Reha, pflegerische Unterstützung). Auch in dieser Situation ist es sehr verständlich, wütend zu reagieren – und auch hier kann Wut hilfreich sein. Denn sie schickt Ihnen – und anderen Menschen – die Botschaft, dass Sie ungerecht behandelt werden. Wut aktiviert, liefert Energie und Antrieb. Dies kann es Ihnen erleichtern, ein zielführendes Verhalten zu zeigen und damit Ihre Situation zu verbessern: z.B. im Fall der Ablehnung Widerspruch bei der Krankenkasse einzulegen und sich dafür evtl. Unterstützung zu suchen.